Infektionsverteilung

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5. Kapitel                         Zurück zum Inhaltsverzeichnis des Buches

Typologische Infektionsverteilung

Selbstverständlich präsentieren sich homosexuelle Lebensläufe vielschichtiger, als die vorangestellte Typologie des Schwulseins zu vermitteln in der Lage ist. Schließlich haben wir unseren Blick einzig auf die Stigma-Bewältigung und Organisation des Intimlebens gerichtet und beispielsweise Aspekte des Freizeitverhaltens, der Berufstätigkeit oder der verschiedenartigen Wohnsituationen außer Acht gelassen. Der Fokus auf die Bewältigung schwieriger Lebensabschnitte, die bei vielen der Interviewten auch längst der Vergangenheit angehören, mag vielleicht einem Klischee neue Nahrung bieten: dem vom unglücklichen Homosexuellen nämlich, der nur geringe Chancen auf einen gelingenden Umgang mit seiner Homosexualität zu gewärtigen hat.

Darum möchten wir an dieser Stelle ausdrücklich wiederholen: Das Ziel unserer Untersuchung besteht keinesfalls in der Illustration individueller Pathologien oder essenzieller Persönlichkeitsmerkmale. Unsere Absicht besteht einzig darin, die Differenzen in den Bewältigungsstrategien eines Stigmas aufzuzeigen und den Zusammenhang mit intimen Handlungsstilen sichtbar zu machen. Erst dieser individualitätsbezogene Zugang macht deutlich, dass die Beschrei­bung des gewöhnlichen Homosexuellen (Martin Dannecker u.a. 1974) oder einer Kerngruppe von Homosexuellen (Michael Bochow 1989) die Pluralität homosexueller Lebensentwürfe aus den Augen verliert. Sinnvoll, ja realitätsgerechter wird es demnach sein, zukünftig nur noch von verschiedenen Techniken und Strategien des Stigma-Managements, von unterscheidbaren Intimitätsmustern und, weil beides auch mit Graden der persönlichen Identifikation verbunden ist, von unterschiedlichen homosexuellen bzw. schwulen Identitäten zu sprechen.

(..)

Die bivariate Verteilung von Handlungsstilen und HIV-Infektionen, welche die nachfolgende Tabelle präsentiert, basiert auf der Auswertung von insgesamt 103 Interviews.[1]

Tabelle 1: Prozentsatzverteilung der HIV-Infektionen nach Handlungsstilen

Handlungsstile (unabhängige Variable)

  Zehenspitzen-
schwuler
Herz-
schwuler
Glied-
schwuler
Verletzter Kopf-
schwuler
Summe
HIV-
positiv
0,0 % 0,0 % 55,2 % 68,7 % 87,5 % 39,8 %
Serostatus
(abhängige
Variable)
HIV-
negativ
84,6 % 65,5 % 27,6 % 31,3 % 12,5 % 43,7 %
Ungetestet 15,4 % 34,5% 17,2 % 0,0 % 0,0 % 16,5 %
100 % (13) 100 % (29) 100 % (29) 100 % (16) 100 % (16) 100 % (103)
Lambda yx = 0.448

 X2 = 55,863, auf dem 0,001 Niveau signifikant

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Die Differenzen zwischen den erwarteten und beobachtbaren Häufigkeiten der einzelnen  Kombinationen von Handlungsstil und Teststatus erweisen sich als hochsignifikant.[2] Das bedeutet, dass HIV-Infektionen weder homosexuelle Männer rein zufällig treffen, noch sich gleichmäßig auf die homosexuelle Po­pulation verteilen. Vielmehr bestätigt sich die ursprüngliche Annahme, nach der ein unterschiedlich hohes Ansteckungsrisiko besteht. Die Prozentsatzdif­ferenzen zwischen den jeweiligen Handlungsstilen verleihen diesem Vertei­lungsmuster eine bemerkenswerte Prägnanz: Die glied- und kopfschwulen Männer sowie die Verletzten weisen im Gegensatz zu den zehenspitzen­schwulen und herzschwulen Männern einen bedeutend höheren Anteil an HIV-Infektionen auf. Die Stärke des Zusammenhangs von Handlungsstil und Serostatus erhärtet unsere Hypothesen, denn in Kenntnis der Typologie lässt sich der Serostatus der betreffenden Männer zu etwa 45 Prozent besser progno­stizieren (Lambda-Koeffizient).

Die Struktur des jeweiligen intimen Handlungsmusters hat aufgezeigt, dass die Ausdrucksformen der Lust nicht allein auf individuellen und schwerlich zu ergründenden Vorlieben basiert, sondern auch auf dem Einfluss eines gesell­schaftlichen Stigmas. Da sich der Zusammenhang von Stigma-Management und sexuellem Handlungsstil auf die Verteilungsstruktur des HI-Virus innerhalb der Gruppe der Homosexuellen auswirkt, lässt sich das erhöhte Infektionsrisiko auf stigmatisierende Umweltbedingungen zurückführen. Die hohen Infektions­raten der Verletzten sowie der Glied- und Kopfschwulen sind Folge eines Handlungsstils, den wir als fremdbestimmt charakterisieren. Da Sexualität das Ergebnis persönlicher und gesellschaftlicher Erfahrungen darstellt, beleuchtet der Begriff des sexuellen Handlungsstils das Sexualverhalten unter der Per­spektive sozialen Lernens und persönlicher Erfahrung. Stigmatisierende Le­bensbedingungen können dazu führen, dass homosexuelle Männer gerade sol­che Handlungstendenzen entwickeln, die sie auf selbstschädigende, ja selbst­zerstörerische Weise daran hindern, kraft ihrer Fähigkeiten oder ihres Gefühls zu leben.

Hingegen fördert eine Balance zwischen den eigenen Empfindungen, per­sönlicher Dokumentation von Homosexualität und Wahrnehmung des äußeren Kontexts die Ausformung eines selbstbestimmten Handlungsstils. Anhand dessen sind Männer in der Lage, die diskreditierbare sexuelle Präferenz sinn­voll in eine heterosexuell gestimmte Welt zu integrieren. Sie brauchen ihr gleichgeschlechtliches Begehren weder zu verdrängen, noch zu ignorieren oder gar gegen sich selbst zu wenden. Die Fähigkeit, in allen Rollenkontexten Konsistenz herzustellen, mündet in einem »Kohärenzgefühl«.[3]

Der Zusammenhang zwischen selbst- bzw. fremdbestimmten Handlungs­strukturen und Verteilung der HIV-Infektionen lässt sich weiter präzisieren, indem die spezifischen Infektionsverteilungen der verschiedenen Typen mit­einander verglichen werden. Vergleichsgrundlage bildet die Prozentsatzver­teilung des Gesamtsamples, ausgewiesen in der Spaltensumme von Tabelle 1 (Verteilung der Handlungsstile nach HIV-Infektionen) und grafisch dargestellt in Diagramm 1.

(...)

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Fußnoten

[1] Acht Fälle wurden aus der weiteren Auswertung ausgeschlossen. Bei den nicht be­rücksichtigten handelt es sich zum einen um fünf Erzählungen von männlichen Pro­stituierten, die sich als heterosexuell darstellten. Da diese allesamt negativ getesteten Stricher intime Begegnungen nicht aus sexuellem, sondern einzig aus ökonomischem Interesse anstreben, fühlen sie sich von der gesellschaftlichen Stigmatisierung Ho­mosexueller nicht betroffen. Ihre Lebenserfahrungen ließ sich keiner homosexua­litätsspezifischen Handlungs­struktur zuordnen. - Zum anderen haben wir drei weitere Interviews aus dem Sample herausgelöst, da sie sich nicht zweifelsfrei interpretieren ließen. Diese Interviewpartner haben ihre Lebenserfahrungen zu stark kommentiert statt erlebnisnah geschildert, sodass man sie erneut hätte befragen müssen. Es handelt sich um zwei ungetestete Männer sowie einen HIV-negativ getesteten Mann. Zurück zu Fn 1

[2] Die Verwendung des c2-Test empfiehlt sich hier trotz einiger Vorbehalte hinsichtlich der Stichprobengröße. Um den Anforderungen an die Stärke der erwarteten Häufigkeiten zu genügen, ist die diesbezügliche Richtlinie dahingehend abgeschwächt, dass keine der erwarteten Häufigkeiten den Betrag 1 und mindestens 75 % die Zahl 5 unterschreiten. Der errechnete c2-Wert von 55,863 liegt weit oberhalb der Grenze, die bei 8 df einem c2-Wert zuzugestehen ist, um als zufällig interpretiert werden zu können. Der entsprechende Wert der c2 - Verteilung beträgt 26,125 (vgl. Blalock: 1979, S. 282 f., 290 ff., sowie Kriz 1973, S. 157). Zurück zu Fn. 2

[3] Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat das Kohärenzgefühl (sense of coherence) als gesundheitsprotektiven Faktor bezeichnet. Ein solches Gefühl bestünde dann, wenn eine Person überzeugt ist, die Welt sei verständlich, handhabbar und bedeutungsvoll (Antonovsky 1987. Zurück zu Fn. 3

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